Mut ist stärker als Angst. Führungsrolle ist das Wort, das ich mir als Wort des Jahres wünsche. Deutsche Führungsrolle.
Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin, liebe Manuela,
Sehr geehrter Herr Vize-Ministerpräsident der Region Tschernihiw,
Exzellenzen,
Sehr geehrte Mitglieder des Bundestages,
Дорогі українки та українці [Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer],
Sehr geehrte Damen und Herren,
etwa 100 Kilometer liegen zwischen zwei Orten in der Region Tschernihiw: Korjukiwka und Jahidne.
79 Jahre liegen zwischen zwei grausamen Kriegsverbrechen. Im Frühjahr 1943 töteten die Nazi-Besatzer die gesamte Bevölkerung von Korjukiwka. Im Frühjahr 2022 hielten russische Besatzer die gesamte Bevölkerung von Jahidne fast einen Monat lang in einem Keller gefangen. Teilweise getötet.
Die russische Besetzung von Teilen der Region Tschernihiw dauerte nur etwas länger als einen Monat. Mehr als 450 Zivilisten wurden in dieser Zeit von den Russen getötet.
Im Keller von Jahidne befanden sich 80 Kinder. Das jüngste Baby weniger als eineinhalb Monate alt. Männer mussten sich dort bis auf die Haut ausziehen. Die Russen suchten nach Tatus mit ukrainischer Symbolik. Es gab weniger als einen Quadratmeter für einen Menschen in diesem Keller.
Die Russen verboten, die toten Geiseln zu begraben.
Ich weiß nicht, wie so etwas im 21. Jahrhundert möglich ist. Aber ich weiß, dass 20 Prozent der Ukraine bis heute unter russischer Besatzung stehen. Und dass dort die russische Finsternis aus dem Keller von Jahidne Tag für Tag ihr genozidales Programm fortsetzt. Und ich weiß ganz genau, dass diese Besatzung alles andere als Frieden heißt.
Vor 33 Jahren haben wir Ukrainer unsere Unabhängigkeit wiederhergestellt. Wir haben die Freiheit gewählt. Seitdem haben wir uns nichts sehnlicher gewünscht als ein normales, friedliches Leben. Ein Leben in einem freien Rechtsstaat. Ein Leben in Europa.
Und doch war dieser Wunsch für Russland zu unabhängig.
Wir Ukrainer wollen Frieden. Die Russen wollen nicht, dass es die Ukraine gibt.
Deswegen haben sie uns den Krieg gebracht. Darum töten sie uns, vergewaltigen unsere Frauen und verschleppen unsere Kinder.
Nach achtzig Jahren ist das Böse zu uns Ukrainern zurückgekehrt. Und leider ist unser dritter Weltkrieg bereits im Gange. Denn unsere Welt ist angegriffen worden.
Aber heute ist alles anders. Und heute steht Deutschland auf der Seite des Guten.
Ich bin dankbar, dass hier niemand mehr vom „Ukraine-Krieg" spricht. Dass allen klar ist, dass es ein Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist. Ein Stück Verständnis fehlt noch. Statt „gegen die Ukraine" muss man schon „gegen Europa" sagen.
Vor allem gegen Deutschland. Russland ermordet Menschen auf deutschem Boden. Russland plant Attentate gegen deutsche Staatsbürger. Russland bereitet Sabotageakte gegen Militärstützpunkte in Deutschland vor. Russland droht. Russland erpresst.
Und wenn wir Russland in der Ukraine nicht stoppen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis nach den russischen Aufklärungsdrohnen auch russische Kampfdrohnen kommen.
Denn alles ist schon klar.
Für das Land ohne Herz ist der Puls Europas unerträglich. Für das Land ohne Freiheit ist die Freiheit des Nachbarn eine Bedrohung. Für Russland ist Europa ein Gegensatz. Und damit ein Feind.
Das IST unser Krieg. Das ist doch unser Krieg. Unser gemeinsamer Krieg. Und weder Europa noch die Ukraine haben ihn gewählt. Das war allein Russlands Entscheidung.
Deutschland hat viele Stärken. Eine der stärksten ist die Fähigkeit, Fehler einzugestehen. Und sie zu korrigieren.
Deutschland ist einen langen Weg gegangen, um die Ukraine zu unterstützen – von 5.000 Helmen zu Leopard, PATRIOT und IRIS-T, vom mobilen Feldlazarett zur deutschen Rüstungsproduktion in der Ukraine, von Panzerfäusten zu Panzerhaubitzen. Deutsche Waffen retten heute Leben.
Mein letzter Besuch in Mecklenburg-Vorpommern stand ganz im Zeichen dieser Lebensrettung. Ich habe meinen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammen mit dem Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Verteidigungsminister Boris Pistorius begleitet. Er besuchte die Ausbildung unserer Soldaten an der dritten deutschen Patriot-Batterie. „Kommt bald nach Hause, wir warten auf euch”, sagte Präsident Selenskyj damals.
Heute sind diese Soldaten in der Ukraine. Und sie retten im Einsatz auf dieser Patriot-Batterie Menschenleben. Tag für Tag. Und vor einigen Tagen hat hier in Deutschland die Ausbildung für ein weiteres Patriot System aus einem anderen Land begonnen.
Es heißt: „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt". Deutschland hat schon ein Universum gerettet.
Ich spreche nicht nur von Waffenlieferungen, sondern auch vom Wiederaufbau des Energiesektors. Seit diesem März zerstört Russland systematisch unsere Energie und unsere Kraftwerke. Russland will uns in die Dunkelheit stürzen. Deutschland bringt uns das Licht zurück.
Dieses Licht erhellt die vielen Partnerschaften, die in den letzten Jahren entstanden sind. Mehr als 210 Städtepartnerschaften gibt es heute zwischen unseren beiden Ländern. Aber auch 7 Regionalpartnerschaften. Dass diese direkten Verbindungen funktionieren, das sehen Sie heute alle hier. Und man spürt es in Tschernihiw schon lange. Mit Hilfe, die aus dem Norden Deutschlands kommt. Auf allen Ebenen.
Es gibt Partnerschaften zwischen Krankenhäusern. Das Netzwerk ist so groß geworden, dass wir im Februar eine große Konferenz haben mussten. Thema – seelische Gesundheit. Schirmherrschaft – First Lady Olena Selenska und First Lady Elke Büdenbender.
Es geht um Partnerschaften zwischen Schulen, zwischen Universitäten, zwischen Gewerkschaften und was auch immer. Ich rufe euch alle auf – sucht diese Partnerschaften und belebt sie! So kann jeder helfen.
Das Wichtigste sind natürlich die Partnerschaften, die Verbindungen zwischen Menschen. Auch und vor allem in der Diplomatie zwischen Leadern. Dass Präsident Selenskyj allein in diesem Jahr schon 4 Mal in Deutschland war, spricht für sich.
Dass wir nicht einmal als zwei Teams, sondern als ein ukrainisch-deutsches Team spielen, hat auch unser Jahreshighlight gezeigt. Die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz. Mehr als 16 Milliarden Euro Zusagen für die Ukraine und mehr als 110 Verträge. Und es ging um mehr als Wiederaufbau – es ging auch um die Wiedergewinnung der Erde. Wiederherstellung des Friedens.
Am Tag der Wiederaufbaukonferenz sprach Präsident Selenskyj vor dem Bundestag. Das ganze Haus der deutschen Demokratie war versammelt. „Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben”, sagte der Präsident damals. Und in wenigen Tagen versammelten wir auf unsere Initiative hin über hundert Staaten und internationale Organisationen zum Ersten Friedensgipfel in der Schweiz. Auch der Bundeskanzler war dabei.
Und das war schon damals unser Plan – für den zweiten Friedensgipfel müssen wir auch den Aggressor einbeziehen. Das muss man sofort verstehen: Russland will das nicht.
Für Russland ist der 10-Punkte-Plan, die Friedensformel von Präsident Selenskyj, eine „Sackgasse”. Denn Russland ist auf Kriegskurs.
Und deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe, Russland zum Frieden zu zwingen. Aus einer Position der Stärke mit Russland zu sprechen. Um Russland vom Vernichtungswillen zum Friedenswillen zu bringen, brauchen wir den politischen Willen des Westens.
Und dazu brauchen wir Mut. Mut, russischen Schrott über der Westukraine aus den Nachbarländern abzufangen. Mut, bei den Angriffen auf russische Kriegsziele in die Vollen zu gehen. Mit größerer Reichweite. Denn nur so erreichen wir Frieden in Reichweite.
Eskalation ist ein Schimpfwort von gestern, ein Ausdruck einer Angst. Mut ist stärker als Angst. Unsere Verteidigungskräfte haben den Mythos der „roten Linien” in Kursk mutig entkräftet.
Führungsrolle ist das Wort, das ich mir als Wort des Jahres wünsche. Deutsche Führungsrolle. Die, die sie schon zeigt, aber auch die, die sie noch zeigen muss.
Denn es geht um mehr als um Hilfe zur Selbstverteidigung. Deutschland leistet seinen Beitrag zur Verteidigung der Freiheit und Sicherheit Europas. Die Freiheit der Ukraine und die Freiheit und Sicherheit Europas sind unteilbar.
Und ja, wir wünschen uns Frieden. Aber es ist ein Wunschdenken, dass der Frieden bald kommt. Und es ist zynischer Populismus und Wählertäuschung, bei Landtagswahlen Rabattfrieden zu verkaufen. Man fragt sich, ob die Verkäufer nicht selbst gekauft sind.
Denn nach wie vor gilt:
Frieden muss erkämpft werden.
Und immer gilt: Frieden muss gerecht sein. Frieden ist Freiheit.
Frieden ist Licht, das nicht im Keller der Besatzung leben kann.
Finsternis muss überwunden werden.
In Zeiten der Aggression gibt es nichts anderes als die Konjunktion „und“ zwischen diplomatischen Bemühungen und Selbstverteidigung mit Waffen.
Die Taube des Friedens wurde von einer russischen Rakete getötet. Der Himmel des Friedens braucht heute die volle Spannweite des deutschen Adlers. Und mehr Reichweite für die Verteidigung.
Ja, das stimmt. Wir haben schon nicht verloren, aber aus irgendeinem Grund bis jetzt auch noch nicht gewonnen.
Mut ist das Gebot der Stunde.
Mut, stark zu werden.
Zwischen uns stehen keine Mauern mehr. Leider bleiben diese imaginären „roten Linien“. Die man aus irgendeinem Grund vor sich selbst zieht. Anstatt sie vor Russland zu ziehen.
Denn es war Russland, das 2014 die einzige wichtige „rote Linie“ überschritten hat. Die ukrainische Staatsgrenze. Die rote Linie des Friedens in Europa.
Und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Grenze wiederherzustellen. Davon hängt die Unabhängigkeit, aber auch die Existenz der Ukraine ab.
Davon hängt die Zukunft Europas ab.
11. September 2024, Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern beim Bund.
Festveranstaltung zum 33. Jahrestag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Ukraine.