Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
20. August 2021
Funke Mediengruppe: Herr Präsident, Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft an diesem Freitag den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. Was sollte ihre Botschaft sein?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Ich weiß nicht, über was sie sprechen werden. Es wird sicher um die deutsch-russischen Beziehungen gehen. Unser Interesse gilt vor allem Sicherheitsfragen und der Ukraine. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet das deutsch-russische Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 als wirtschaftliche Angelegenheit, aber für uns sind die Sicherheitsaspekte vorrangig. Das sollte auf jeden Fall auf die Tagesordnung des nächsten Normandie-Gipfels zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine kommen.
Funke Mediengruppe: Die Kanzlerin hat in der Vergangenheit stets betont, dass sie am Dialog mit Putin festhalten wolle – egal, was passiere. War sie Ihrer Meinung nach zu weich gegenüber Moskau?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Merkel befindet sich in einer ziemlich schwierigen Position. Ihr ist an einem gesunden – ja, sogar herzlichen – Dialog mit Russland gelegen. Sie versucht ganz klar, die Beziehungen mit Moskau aufrechtzuerhalten. Das kann man pragmatisch nennen. Und sie möchte vermeiden, dass es bei der Bundestagswahl am 26. September zu irgendwelchen Überraschungen kommt. Russland hat nach wie vor Einfluss. Meine persönliche Sicht ist die: Die Kanzlerin vollführt einen sehr feinen Balanceakt. Für meine Begriffe ist er ein bisschen zu fein. Merkel will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber die Fliegen bewegen sich immer weiter auseinander – die Entfernung zwischen ihnen wächst. Das führt nicht zum Ziel.
Funke Mediengruppe: Sind Sie besorgt, dass die Kanzlerin am Freitag zuerst nach Moskau fliegt, um Ihnen dann zwei Tage später in Kiew die Ergebnisse auf den Tisch zu legen?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Nein, da bin ich ganz ruhig. Frau Merkel und ich sind über die Phase des gegenseitigen Umwerbens und miteinander Ausgehens hinaus. Ich bin sehr pragmatisch und kann meine Erwartungen zügeln. Mir geht es eher um zählbare Ergebnisse – auch wenn sie überschaubar sind. Ich erwarte nicht, dass die Kanzlerin mit Geschenken nach Kiew kommt. Das hat sie auch während der vergangenen gut Jahre nicht getan. Ich hoffe, dass Merkel mit Putin irgendeine Art Vereinbarung erzielt, bevor sie in Kiew aufschlägt. Das könnten Garantien für die Ukraine sein. Zum Beispiel, dass Russland eine Mindestmenge an Gas zusagt, das durch die Pipelines der Ukraine in die EU geleitet wird.
Funke Mediengruppe: Der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck hat im Mai gefordert, dass die Ukraine Defensivwaffen aus Deutschland erhält. Wünschen Sie sich das von mehr deutschen Politikern?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Hier ist mir vor allem Fairness wichtig. Wenn ein Unternehmen wie Siemens Verträge mit Russland in dem Moment abschließt, in dem die Krim annektiert wird und ein Teil dieser Vertragsabsprachen später auf der Krim landet, stelle ich mir schon die Frage: Warum sollte die Ukraine nicht selbst versuchen, derartige Verträge an Land zu ziehen? Angesichts der Vorstöße von Russland, das Schwarze Meer und das Asowsche Meer zu blockieren, erwarten wir, dass Deutschland in technischer Hinsicht unser Partner ist. Deutschland sollte uns etwa dabei helfen, die ukrainische Marine auszustatten. Wir haben die Forderungen von Habeck, Waffen an die Ukraine zu liefern, sehr begrüßt. Wir sind ein bisschen traurig, dass wir von den Regierungsparteien in Deutschland nicht die gleiche Unterstützung bekommen.
Funke Mediengruppe: Knallharte Kritik an Putin, Nein zu Nord Stream 2, Waffen für die Ukraine: Wäre ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin der Grünen nicht Ihre erste Wahl?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: (lacht) Es klingt höchst symbolisch: Die Wurzel meines Nachnamens bedeutet auf Deutsch „grün“. Aber ich will keine Kommentare zur deutschen Innenpolitik abgeben. Die Ukraine unterstützt jeden demokratisch gewählten Kanzler oder jede Kanzlerin. Ich erinnere mich an das Treffen mit Habeck im Mai. Er ist ein toller Typ, sehr offen und auf der persönlichen Ebene unkompliziert. Ich bin sicher, Habeck wird noch eine lange und kreative politische Karriere haben.
Funke Mediengruppe: Sie haben von US-Präsident Joe Biden ein klares Ja oder ein klares Nein zum Nato-Beitritt der Ukraine gefordert. Haben Sie es erhalten?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Der Ukraine wird nicht nur der Nato-Beitritt nicht erlaubt. Sie wird nicht einmal eingeladen. Das finde ich frustrierend. Das Ganze sendet ein mächtiges Signal an andere Beitrittskandidaten aus. Die Botschaft: Der Weg zur und in die Nato ist extrem schwierig. Das wiederum schafft ein Vakuum, das Russland sehr gern ausfüllt. Die Ukraine hat den Status, fast ein Mitglied der EU und fast ein Mitglied der Nato zu sein. Dabei lebt das Land bereits nach europäischen Standards. Und die Führungszentralen des Militärs erfüllen die Anforderungen der Nato.
Funke Mediengruppe: Biden argumentiert, dass die Ukraine zuerst gegen Korruption vorgehen muss, bevor die Tür zur Nato offen ist. Was sagen Sie dazu?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: (lacht) Wir haben die Korruption ausradiert. Das war natürlich ein Witz. Es ist wohlfeil, die Ukraine der Korruption zu beschuldigen. Seien wir ehrlich: Kein Land ist frei von Korruption, korrupten Beamten oder Oligarchen. Aber die Ukraine hat in den vergangenen gut zwei Jahren eine Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung errichtet, die in Europa oder vielleicht sogar weltweit ihresgleichen sucht. Es gibt eine Vielzahl von unabhängigen Untersuchungsstellen wie etwa das nationale Anti-Korruptions-Büro oder der Hohe Gerichtshof der Korruptionsbekämpfung.
Funke Mediengruppe: Haben Sie sich eine Frist gesetzt, bis wann die Ukraine Mitglied von EU und Nato sein muss?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Nein, es gibt keine Deadline.
Funke Mediengruppe: Die USA und Deutschland haben sich auf die Fertigstellung von Nord Stream 2 geeinigt. Fühlt sich die Ukraine verraten?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Ich bin natürlich überhaupt nicht glücklich über die Vereinbarung. Das Thema Nord Stream 2 steht bei meinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden am 30. August in Washington ganz oben auf der Agenda. Aber es ist immer noch ein langer Weg. Auch wenn nur noch ein Prozent bis zu Fertigstellung von Nord Stream 2 fehlt: Es ist eine Sache, die Gas-Pipeline zu bauen. Eine andere ist die Inbetriebnahme, das braucht Zeit. Internationales Recht muss befolgt, internationale Energie-Standards müssen eingehalten werden. Dazu kommen noch Versicherungen. Wir werden die Zeit nutzen, um unsere eigenen Interessen zu verteidigen. Selbst wenn die Pipeline fertiggebaut ist, gibt es noch ein großes Fragezeichen, ob sie auch in Betrieb gehen kann. Unsere Chancen, dass das Projekt doch nicht zum Zuge kommt, liegen bei 30 bis 40 Prozent.
Funke Mediengruppe: Die USA und Deutschland haben versprochen, eine Milliarde Dollar in die erneuerbaren Energien in der Ukraine zu investieren. Reicht Ihnen dies als Kompensation für Nord Stream 2?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Wir müssen auf rund zwei Milliarden Dollar pro Jahr für den entgangenen Gastransit verzichten. Wir können erwarten, dass die Gaspreise für die ukrainischen Verbraucher steigen werden, weil weniger durch unsere Pipelines transportiert wird. Nord Stream 2 ist eine Waffe. Moskau ist in der Lage, auf dem Gasmarkt für eine Verknappung des Angebots zu sorgen und damit den Preis nach oben zu treiben. In der heutigen Welt braucht man keine Maschinengewehre zu kaufen, um einem Land Schaden zuzufügen. Es reicht, wirtschaftliche Instrumente einzusetzen.
Funke Mediengruppe: Mal ketzerisch gefragt: Könnte sich Nord Stream 2 im Nachhinein für die Ukraine nicht als Segen erweisen? Wenn Sie radikal auf erneuerbare Energien wie Wind, Solar und grünen Wasserstoff umsteuern, wären Sie ein Vorreiter in der Klimapolitik.
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Das mag in einigen Jahren möglich sein, wenn es Verfahren zur günstigen Erzeugung von grünem Wasserstoff gibt. Technisch wären wir sogar in der Lage, den grünen Wasserstoff durch unsere Gas-Pipelines zu transportieren. Aber wir stehen da noch ganz am Anfang.
Funke Mediengruppe: Vor einem Jahr wurde eine Waffenruhe für den Donbass vereinbart. Warum hielt sie nicht?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Die Waffenruhe wurde acht Monate eingehalten. Danach hat Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen. Es war eine Demonstration der Stärke, um Druck auszuüben. Diese militärische Konzentration ist immer noch da: Russland kann jederzeit 100.000 Kräfte nahe der Grenze zusammenziehen.
Funke Mediengruppe: Welche Gefühle haben Sie gegenüber Putin? Erschreckt er Sie? Ist er rational? Als ehemaliger Schauspieler haben Sie ein Gespür dafür, was in Menschen vorgeht.
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Ich würde Putin als irrational bezeichnen. Er ist emotional, manchmal sogar hoch emotional, wenn es um die Ukraine geht. Vielleicht ist er sogar zu emotional für seine Rolle. Aber das eine schließt das andere aus: Man ist entweder rational oder emotional.
Funke Mediengruppe: Vor Ihrer Präsidentschaft waren Sie TV-Schauspieler und Komödiant. Was hat Sie im neuen Job am meisten überrascht?
Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj: Der weit verbreitete Zynismus. Manche Menschen sind derart zynisch, dass es selbst ihre eigene Vorstellungskraft übersteigt.
Geführt von Michael Backfisch.
Quelle: Funke Mediengruppe
Foto: SERGEI SUPINSKY / AFP via Getty Images