Als der rote Teufel den Hungertod sandte
Der sowjetische Genozid am ukrainischen Volk wird heute aus ideologischen Motiven erneut bestritten, doch seine historische Wahrheit ist unbestreitbar.
VON STEPHAN BAIER
Vorausgegangen war dem Holodomor, der mindestens fünf Millionen Menschen das Leben kostete, ein doppelter Versuch, die in Moskau verhasste und gefürchtete Ukraine ihrer Identität zu berauben: „Während auf dem Land die Bauern starben, attackierte die Geheimpolizei die geistigen und politischen Eliten der Ukraine“, so Applebaum. Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller und vor allem Priester gerieten ins Fadenkreuz. Schon 1918 hatte Lenin die Ukraine angegriffen: Wie Jahrzehnte später Wladimir Putin, so befahl Wladimir Lenin einen getarnten Einmarsch russischer Truppen. Von Anfang an ging es um die Plünderung der Kornkammer Europas. Während der Geheimdienst die Intellektuellen verhaftete, raubten Schläger der Roten Armee die Bauern aus.
Die Sowjetpropaganda machte aus erfolgreichen ukrainischen Bauern, den „Kulaken“, ideologische Sündenböcke und Feinde des Bolschewismus. 1920/21 kam es zur ersten Hungersnot. Moskau nutzte sie – wie ein Jahrzehnt später – um die Kirche zu schwächen. Kirchenbesitz wurde beschlagnahmt, Kirchen geplündert, Priester verhaftet. Um die nationale Identität der Ukraine zu zerstören und jeden Widerstand gegen den Bolschewismus zu brechen, zerschlug Stalin den freien Bauernstand und die im Volk verwurzelte Kirche.
Applebaum schildert: „Überall in der Ukraine befahlen dieselben Brigaden, die die Kollektivierung organisierten, den Bauern auch, Kirchenglocken herunterzuholen und zu zerstören, sie einzuschmelzen, Kirchenbesitz zu verbrennen und Ikonen zu zerstören. Priester wurden verspottet und heilige Orte geschändet.“ Begleitet von einer Welle antireligiöser Propaganda wurden Priester und Kulaken deportiert, die kirchlichen Feiertage durch jene der Partei ersetzt, Kirchen zu Lagerhallen und Garagen profaniert. Stalin wusste: Ohne Religion waren die Menschen dem Sowjetstaat, seiner Propaganda wie seiner Gewalt, schutzlos ausgeliefert. Nicht nur die wirtschaftliche, auch die moralische Ordnung wurde vorsätzlich zerstört.
Die Zwangskollektivierungen degradierten Bauern zu Leibeigenen, die auf unproduktiven Kolchosen schufteten, ohne damit ihr Überleben sichern zu können. Widerstand wurde mit Verhaftungen, Deportationen und Gewalt gebrochen. Als die dritte, die größte Hungersnot 1932 begann, erließ der Staat Anweisungen, den Getreideexport ins Ausland aufrechtzuerhalten. Während verhungernde Bauern für den Diebstahl winzigster Mengen von Lebensmitteln mit dem Tod bestraft wurden, exportierte der Sowjetstaat mehr als fünf Millionen Tonnen Getreide, zudem Speck, Butter, Gemüse, Fisch und Fleisch, um Devisen in die Kasse zu spülen.
Als sich die Hungertoten mehrten, sperrte Stalin die ukrainischen Grenzen für die Bauern. Nicht einmal durch Flucht sollten die Kulaken dem Hungertod entrinnen können. Bald „erregte es schon Verdacht, überhaupt am Leben zu sein“, schreibt Applebaum. „Wenn Familien lebten, besaßen sie Lebensmittel. Wenn sie aber Lebensmittel besaßen, hätten sie sie abgeben müssen.“ In der Logik Stalins waren sie damit Agenten und Feinde. Applebaums Fazit: „Es war eine politische Hungersnot, speziell zu dem Zweck geschaffen, den Widerstand der Bauern und damit die nationale Identität zu schwächen.“
Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der wiedererlangten Eigenstaatlichkeit konnte über den Kreuzweg angstfrei gesprochen werden. „Der Holodomor hat für die Ukrainer dieselbe historische Dimension und dieselbe sakrale Bedeutung wie der Holocaust für die Juden“, meint der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, gegenüber der „Tagespost“. Der Holodomor zähle zu den größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit und müsse als solches verurteilt werden. Es gebe in der Ukraine kaum eine Familie, die von dieser Tragödie nicht betroffen ist. Das ukrainische Parlament verabschiedete 2006 ein Gesetz über den Holodomor, worin dieser als Völkermord bezeichnet wurde. Seither entstanden rund 7 000 Gedenkstätten: „Ein Zeichen dafür, dass der Holodomor zum untrennbaren Bestandteil der DNA des ukrainischen Volkes geworden ist“, so Melnyk gegenüber dieser Zeitung.
Viele Staaten haben den Holodomor als Genozid anerkannt, darunter Australien, Ecuador, Estland, Georgien, Kanada, Kolumbien, Lettland, Litauen, Mexiko, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Ungarn und die USA, ebenso der Heilige Stuhl. Der Deutsche Bundestag hat zwar den Genozid von 1915 an den Armeniern mittlerweile anerkannt, nicht aber Stalins Krieg gegen die Ukrainer. „Früher konnte man im Bundestag oft das Argument hören, Deutschland habe mit dieser Tragödie nichts zu tun, daher bestünde kein Handlungsbedarf. Diese Einstellung ist komplett falsch, denn ein Völkermord, das Verbrechen der Verbrechen, betrifft jeden Menschen, jede Nation und jeden Staat unmittelbar und erfordert eine Antwort“, so Botschafter Melnyk.