Oleksii Makeiev, Botschafter der Ukraine, hielt die 19. Berliner Rede zur Freiheit.
Seit 2007 lädt die Friedrich-Nauman-Stiftung für die Freiheit Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft oder Kultur ein, die Berliner Rede zur Freiheit zu halten und damit einen gewichtigen Beitrag zum Freiheitsdiskurs zu leisten. Bisherige Redner der jährlich im Frühjahr am Brandenburger Tor stattfindenden Veranstaltung waren unter anderem Joachim Gauck, Mark Rutte, Christian Lindner, Timothy Garton Ash und Kaja Kallas.
Auf Einladung der Stiftung hielt Oleksii Makeiev, Botschafter der Ukraine, am 10. April 2025 die 19. Berliner Rede zur Freiheit am Brandenburger Tor.
Wir veröffentlichen den vollständigen Text der Rede.
Lieber Herr Professor Paqué,
Verehrte Damen und Herren,
Was ist Freiheit?
Fragt man in Bonn, hört man wahrscheinlich die Geschichte von Konrad Adenauer und der Schicksalsfrage Deutschlands. Also von der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fragt man in Leipzig, hört man wahrscheinlich eine ganz andere Geschichte. Eine Geschichte der Friedlichen Revolution und wie der Fall der Mauer in Leipzig begann.
Wenn Sie einen Franzosen nach der Freiheit fragen, werden Sie wahrscheinlich erfahren, dass die Freiheit eine französische Erfindung ist. Wie alles Gute auf der Welt.
Fragt man einen Russen, wird er die Frage nicht verstehen. Stattdessen wird er unbedingt versuchen, Sie zu „befreien”. Was eine russische „Befreiung” ist, haben wir in Butscha oder Mariupol gesehen.
Sie haben einen Ukrainer gefragt. Und so dankbar ich dafür bin, so verdammt schwer haben Sie es mir gemacht, meine Damen und Herren. Persönlich. Und auch dienstlich. Denn wenn es um Persönliches geht, kann man diese Frage nur ehrlich beantworten. Und zugleich muss ich als Botschafter eines mutigen Landes und eines stolzen Volkes eine anständige Antwort geben.
Was also ist Freiheit?
Die Antwort hängt davon ab, wer sie gibt. Aber auch wo und wann. Noch vor einigen Jahren hätte man dieselbe Antwort in der Nacht von Samstag auf Sonntag im Berliner Berghain und in einem der Clubs von Kyjiw hören können. Heute würde man in Kyjiw nachts kaum jemanden fragen. Es herrscht Ausgangssperre. Und statt Techno hört man Luftalarm und Kamikaze-Drohnen.
Manche, die man vor einigen Jahren noch auf einem Dancefloor in Kyjiw gefunden hätte, stehen heute an vorderster Front. Früher die ganze Nacht Rave. Jetzt die ganze Nacht Wache. Diese Wache steht dafür, dass im Berghain getanzt werden kann. Diese Wache steht für Freiheit. Diese Wache steht bis zum Ende. Und für manche ist dieses Ende bereits gekommen. Der Totentanz des russischen Vernichtungskrieges ist ihr letzter Tanz geworden. Sie gaben ihr Leben für die Freiheit. Für eine Freiheit, die sie nicht mehr genießen können.
Aber was ist Freiheit?
Ich erinnere mich an ein großes Transparent im Zentrum von Kyjiw. Es zeigte eine zerbrochene Kette. Daneben standen die Worte „Freedom is our Religion”. Mit diesem Transparent wurde das ausgebrannte Gebäude auf dem Maidan Nesaleschnosti verhüllt. Der Brand ereignete sich Ende Februar 2014, als das Gebäude von Spezialeinheiten des Machthabers Janukowytsch gestürmt wurde. Den ganzen Winter über diente dieses Gebäude, das Haus der Gewerkschaften, als Hauptquartier der Revolution. Der Revolution, die als Antwort auf staatliche Gewalt und Willkür begann.
Ende November 2013 protestierten Studierende gegen die Entscheidung der Regierung, die Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Janukowytsch setzte seine Spezialeinheiten gegen die Demonstranten ein. Etwa 300 voll ausgerüstete Polizisten umzingelten etwa 100 Studierende und schlugen sie im Schutze der Nacht brutal zusammen.
Als Grund wurde das Aufstellen eines Weihnachtsbaumes angegeben.
Die etwa 100 jungen Menschen standen auf dem Maidan für die Zukunft. In den folgenden Tagen kamen etwa eine Million Menschen aller Altersgruppen für die Würde. Auch ich war mit meiner Frau Olena dabei.
Nur wenige dieser Million Menschen haben das Grundgesetz gelesen. Aber wir alle sind aus der tiefen Überzeugung gekommen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.
Die Revolution hat gewonnen. Und mit ihr hat die Freiheit gesiegt. Diese Revolution ist in die Geschichtsbücher eingegangen als Revolution der Würde.
Wo die Missachtung der Würde geduldet wird, ist die Freiheit bald am Ende. Wer die Würde des Menschen angreift, überschreitet die Grenze der Menschlichkeit. Freiheit ist der Schutz der Würde.
Den Slogan „Freiheit ist unsere Religion” kann ich mir gut in Berlin vorstellen. Irgendwo auf der East Side Gallery. Ein weiteres Graffiti an der Berliner Mauer. Im Namen derer, die „diese tödliche Liebe” überlebt haben. Und zum Gedenken an die, die nicht überlebten.
Eine Mauer gibt es jetzt auch in Kyjiw, direkt neben unserem Außenministerium. Gedenkmauer zu Ehren der Gefallenen für die Ukraine. Eine Mauer, an der ausländische Delegationen Blumen niederlegen. Eine Mauer, die immer länger wird. Eine Mauer, auf der immer mehr Fotos zu sehen sind.
Dass wir in Kyjiw 35 Jahre nach dem Mauerfall an einer neuen Mauer unserer Gefallenen gedenken, bedeutet nur eines. Die Freiheit hat noch lange nicht gesiegt. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Der Kampf für die Freiheit geht weiter.
Für die Freiheit, die man nicht teilen kann. Denn Spaltung macht uns schwach. Weil Einheit uns stark macht. Denn Freiheit ist unteilbar.
Und echte Freiheit ist gerechte Freiheit. Einigkeit und Recht und Freiheit - das muss nicht nur „für das deutsche Vaterland” gelten. Sondern für uns alle.
Aber was ist diese Freiheit genau?
Timothy Snyder beginnt sein Buch „Über Freiheit” mit der Geschichte der alten Ukrainerin Marija aus dem Dorf Posad-Pokrowske. Ihr Dorf wurde erst von Russen besetzt und dann von Ukrainern befreit. Snyder behauptet jedoch, dass die wirkliche Freiheit für Marija nicht allein durch die Befreiung erreicht wurde: Die wirkliche Freiheit, schreibt Snyder, wurde für Marija durch die guten Taten anderer Menschen erreicht. Von denen, die ihr halfen, ihr Haus wieder aufzubauen. Von denen, dank derer die 84-jährige Marija wieder in Würde leben kann.
Nicht nur die Abwesenheit des Bösen, so Snyder weiter, sondern auch die Anwesenheit des Guten macht Freiheit aus.
Ich habe das Buch letzte Woche am Hauptbahnhof in Kyjiw gekauft. Ich war auf dem Rückweg von einer Dienstreise, auf der ich Außenministerin Baerbock begleiten durfte. Wie immer war der ukrainische Nachtzug auf die Minute pünktlich. Wie immer musste ich an die Deutsche Bahn denken.
Zuerst wollte ich an dieser Stelle scherzen, dass sich kaum jemand auf der Welt so frei fühlt, wie die Deutsche Bahn mit ihrem eigenen Fahrplan. Aber dann dachte ich wieder an Snyders Buch und kam auf die Idee, dass Freiheit manchmal die Erscheinung des Guten trotz der Anwesenheit des Bösen ist. Denn die Mitarbeiter der ukrainischen Eisenbahn Ukrsalisnytsia sind in der Tat frei. Sie behaupten ihre Freiheit tagtäglich, indem sie inmitten des andauernden Angriffskrieges Russlands immer wieder pünktlich abfahren und ankommen.
Sie schaffen das, weil sie es schaffen wollen. Statt zu fragen: „Können wir das?”, stellen sie sich die Aufgabe: „Wir müssen.”
Die Freiheit ist also der Wille.
Aber jetzt muss ich mich outen. Obwohl ich nicht nur Botschafter der Ukraine bin, sondern auch selbsternannter Ambassador von Ukrsalisnytsia, mag ich Nachtzüge nicht besonders. Ich habe einfach nicht das Talent, im Zug einzuschlafen.
Am liebsten fliege ich. Am liebsten sogar am Steuer eines Flugzeugs. Und wenn man mich persönlich fragen würde, was Freiheit ist, wäre meine Antwort wahrscheinlich mit dem Himmel verbunden. Mit dem ukrainischen Himmel, wo heute die zivile Luftfahrt verboten ist und statt Flugzeugen nur noch russische Raketen und Drohnen fliegen. Und meine Antwort wäre auch mit meinem Glauben verbunden, dass ich eines Tages wieder mit meinem Freund Nika als Kopilot im ukrainischen Himmel fliegen werde. Sein Flugzeug stand nach dem Flugverbot in Odesa im Hangar. Dort wurde sein Flugzeug von einer russischen Kamikaze-Drohne zerstört.
Ich glaube, viele von euch wissen, dass wir Ukrainer das größte Flugzeug der Welt gebaut haben. Es hieß „Mrija“. Also „Traum“. Und dieser „Traum“ war eines der ersten Ziele der Russen. Leider auch eines der Treffer.
Die Russen haben viele Flugzeuge. Die Russen waren sogar im Weltall. Aber ich glaube, die Russen können weder fliegen noch träumen. Weil sie keine Flügel haben. Weil sie nicht frei sein können.
Auf Adenauers Schicksalsfrage antworten die Russen immer wieder mit der bewussten Wahl der Sklaverei statt der Freiheit.
Putin fälscht zwar immer wieder Wahlergebnisse, aber er tut das, weil er ein Diktator ist. Denn eigentlich braucht er das nicht, um Wahlen zu gewinnen.
Was die Russen gut können, ist hassen. Vernichtungswille ist ihre zentrale Motivation.
Befreite ukrainische Kriegsgefangene erzählen, dass die Russen ihre Folter „Attraktionen“ nennen. Wie die Attraktionen in einem Vergnügungspark.
Die Russen nehmen alte Telefonapparate mit hoher Amperezahl. Mit Strom durch die Telefonkabel foltern sie. Sie hängen Menschen mit den Füßen an Turngeräten auf. Das nennen sie „Fahrrad“. Sie stülpen den Menschen Mühlenpäckchen mit Chlorkalk über den Kopf. Weil der Mensch nicht frei atmen soll.
Man braucht den Russen nicht zu sagen: „Don't look up“. Die wissen sowieso nicht, dass es da oben einen Himmel gibt. Für sie gibt es da oben nur ihren Ortskommandanten. Und irgendwo ganz oben gibt es Putin.
Die Russen träumen nicht. Deshalb konnten sie unsere Träume nicht zerstören. Deshalb können sie unseren Himmel nicht besetzen.
Mit meinem Freund Nika werde ich als Kopilot wieder im freien ukrainischen Himmel fliegen.
Es wäre natürlich symbolisch, wenn der zukünftige Bundeskanzler Friedrich Merz als Flugkapitän einen der ersten Flüge in den friedlichen Himmel über der Ukraine unternehmen würde. Als Kopilot wäre ich bereit, den Funk zu übernehmen. Als Diplomat tue ich das sowieso.
Freiheit ist nicht nur die Fähigkeit zu träumen. Freiheit ist vor allem der Wille, die eigenen Träume zu verwirklichen.
Aber kann es sein, dass man Freiheit gar nicht mit Worten beschreiben kann?
Ich liebe zum Beispiel die Musik. Musik ist in der Tat eine Kraft, die die Persönlichkeit befreit.
Im Herbst 2022 wurde ich zum Botschafter in Deutschland ernannt. Meine erste Aufgabe war es also, nach Deutschland zu kommen. Flugzeuge fliegen nicht. Meine Liebe zu Nachtzügen habe ich bereits erwähnt. Die Wahl war klar und zu zweit mit meiner Frau Olena saßen wir im Auto.
Die Wahl der Musik ist eine der wenigen Freiheiten, die man als Fahrer hat. Botschafter wird man nicht jeden Tag, bei mir zum Beispiel ist das bis heute erst einmal passiert. Deshalb brauchte ich für diese besondere Reise auch eine besondere Playlist – zusammengestellt nach den Empfehlungen meiner deutschen Follower, damals noch auf Twitter.
Unter den Empfehlungen war auch ein Song, den ich damals neu entdeckt habe.
„Freiheit ist das Einzige was zählt“ sangen wir mit Marius Müller-Westernhagen im Auto auf dem Weg nach Berlin. Meiner Frau zuliebe habe ich Westernhagen die Leadstimme überlassen.
„Das Einzige was zählt.“ Was für schöne Worte, oder? Google sagte mir, dass Westernhagen dieses Lied im Frühjahr 2022 bei einem der Ukraine gewidmeten Konzert gespielt hatte. Ich war gerührt. Ich war inspiriert.
Einige Monate später traf ich Westernhagen zufällig in Düsseldorf. Ich erzählte ihm von meiner Begeisterung und bedankte mich für „Freiheit“.
Noch ein paar Monate später sah ich Westernhagen wieder. Diesmal im Fernsehen. Bei Maischberger. Und was hörte ich? „Langfristige Ursachen des Krieges“, „deutsche Politik als Wunschkonzert“, denn „der Sieg der Ukraine ist richtig, aber wir leben nicht in einer perfekten Welt“, also nur Zugeständnisse - aber natürlich vor allem von der Ukraine.
Und was „Freiheit“ angeht, war der Song nicht ernst gemeint. Eher satirisch.
Ist Freiheit also Satire? Ist der Kampf für die Freiheit ein Aprilscherz? Ist Freiheit ein Witz?
Als ich an diesem Wochenende über diese Rede nachdachte, standen mir neun Namen vor Augen.
Tymofij. Radyslaw. Arina. Herman. Danylo. Mykyta. Alina. Kostiantyn. Nikita.
Das sind die Namen der neun Kinder. Sie alle wurden am Freitagabend von einer russischen Rakete getötet. Tymofij war der Jüngste. Er war 3 Jahre und 9 Monate alt. Das heißt, er hat in seinem kurzen Leben nichts anderes als Krieg erlebt. Am meisten wünschte sich Tymofij, dass sein Vater lebend aus dem Krieg zurückkehren würde.
Am Samstagabend bin ich zufällig über das Zitat eines deutschen Influencers gestolpert. „Ich lebe lieber in Unfreiheit, als für Freiheit zu sterben.“ Zitatende.
Tymofij hatte keine Wahl. Aber sein Vater? Hätte sein Vater die Waffe niedergelegt, hätten alle ukrainischen Väter und Mütter die Waffe niedergelegt, würden ihre Kinder leben? In Unfreiheit, unter russischer Besatzung, aber sie würden wahrscheinlich leben. Aus Tymofij müsste Timofej werden. Aber er könnte zur Schule gehen. Russische Schule, aber macht das einen Unterschied?
Ist die Freiheit vielleicht eine Täuschung? Niemand wird es wagen zu sagen, dass Freiheit wichtiger ist als das Leben eines Kindes.
Am nächsten Tag war ich beim 80. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald. Nach der Gedenkveranstaltung in Weimar fuhr ich zum ehemaligen Konzentrationslager. Vor dem Gelände der Gedenkstätte sprach mich ein Mann an. „Ich bin Ihr Follower auf X. Mein Name ist Holger Obbarius, ich arbeite hier in der Bildungsabteilung.“
Er bot mir eine Führung an. Als wir uns dem Krematorium näherten, zeigte er auf eine Stelle jenseits des Zaunes. Dort war auf Befehl des Kommandanten ein kleiner Zoo eingerichtet worden. Als Naherholungsgebiet für die SS, wo sie mit ihren Familien die Mittagspause verbringen konnten. Später mussten sie es - der Kommandant hatte es so befohlen.
Familienzeit. Etwa 20 Meter von einem Krematorium entfernt, wo man die Menschen, die gerade getötet wurden, hinbrachte und stapelte. Aus der Sicht der Nazis waren das keine Menschen. Ressourcen. Diese Mittagspause in einem Zoo gleich nebenan sollte denen im KZ noch einmal deutlich ihren Platz in der Welt zeigen. Ganz im Sinne der Inschrift auf dem Tor: „Jedem das Seine“.
Ich erinnerte mich an einen Keller in der Schule des Dorfes Jahidne in der Ukraine. Etwa einen Monat lang war Jahidne im Frühjahr 2022 von den Russen besetzt. Die ganze Bevölkerung wurde für diese Zeit von den Russen in den Keller gesperrt.
Die Männer mussten sich dort bis auf die Haut ausziehen. Die Russen suchten Tätowierungen mit ukrainischer Symbolik. Es gab weniger als einen Quadratmeter für einen Menschen in diesem Keller.
Die Russen haben verboten, die toten Geiseln zu begraben.
Ich war mit Außenministerin Annalena Baerbock dort. Wir wurden von einem Überlebenden des Kellers mit den Worten „Willkommen im KZ Jahidne“ begrüßt.
Stanislaw Asejew berichtet in seinem Buch „Heller Weg“ über das Geheimgefängnis „Isoljatsija“ (russ. Isolation) in Donezk. Im besetzten Donezk arbeitete Asejew nach 2014 unter einem Pseudonym für Radio Liberty. 2017 wurde er von den Besatzungstruppen verhaftet. Sie brachten ihn in „Isoljatsija“ unter.
In seinem Buch nennt er den Ort „Donezker Dachau“. Sein Buch ist auch in deutscher Übersetzung erschienen. Und natürlich wurde Stanislaw Asejew gefragt, ob er übertreibe. „Es ist keine Todesfabrik“, sagte er. „Aber man kann es durchaus mit den deutschen Konzentrationslagern Anfang der 1930er Jahre vergleichen. In Bezug auf die Konzentration von Menschen und das Fehlen jeglicher Legalität.“
In „Isoljatsija“ wurde auch mit Strom gefoltert. Die Gefangenen wurden außerdem zum Singen gezwungen. Zum Singen der sowjetischen Hymne.
Ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf sagte einmal, niemand versuche, die Singularität der Shoah in Frage zu stellen. Man müsse aber auch die Singularität des heutigen völkermörderischen Angriffskrieges Russlands anerkennen.
Die Russen sprechen uns Ukrainern das Existenzrecht ab. Sie sagen nicht, dass sie uns alle vernichten wollen. Sie sagen nur, dass es uns überhaupt nicht gibt.
Wenn wir von russischen Konzentrationslagern in der Ukraine sprechen, versuchen wir nicht, Auschwitz, Buchenwald oder Dachau zu relativieren. Und wenn man übertreibt, ist es dann nicht besser, heute zu übertreiben, als später mit hundertprozentiger Sicherheit dasselbe sagen zu müssen, ohne zu übertreiben?
„So hat es damals auch angefangen“, zitierte Altbundespräsident Christian Wulff bei der Gedenkveranstaltung in Weimar die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Wenn Friedländer heute so etwas sage, dann müsse uns das antreiben, sagte Wulff. Weiter griff er die „Alternative für Deutschland“ direkt an.
Der russische Faschist Alexander Dugin, den der Altbundespräsident in seiner Rede erwähnte, sagte 2014, man müsse die Ukrainer „töten, töten und nochmals töten“. Es gibt mindestens zwei bekannte Politiker, die die Ideen des sogenannten „Eurasismus“ von Alexander Dugin gerne vertreten. Der eine ist Wladimir Putin. Der andere ist Björn Höcke.
So hat es damals auch angefangen. Mahnung ist keine Relativierung. Freiheit muss sich wehren können. Und vor allem wollen.
In Buchenwald kennt jeder den Namen des Ukrainers Borys Romantschenko. Er war hier Häftling und hat überlebt. Im März 2022 wurde er in seiner Wohnung in Charkiw von einer russischen Rakete getötet. Er hat den russischen Krieg nicht überlebt.
„Für uns, die wir hier arbeiten, ist es eine Selbstverständlichkeit, die Ukraine zu unterstützen. Denn das hängt zusammen“, sagte mir Holger Obbarius.
Er hat mich mit seinem profunden Geschichtswissen, aber auch mit seiner Menschlichkeit und Empathie beeindruckt. Er wählt jedes Wort mit Bedacht. Er weiß: Wenn man über Buchenwald spricht, muss man es tun.
Holger Obbarius hat keinen Freiheitshit geschrieben. Aber er hat den vielleicht wichtigsten Job der Welt. Er bringt den Menschen bei, was Freiheit ist und warum man sie bewahren muss. In Buchenwald begreift man das vielleicht am besten.
Ich habe mich gefragt, ob der junge Deutsche, der „lieber in Unfreiheit lebt, als für die Freiheit zu sterben“, einmal in seinem Leben hier war.
Die Kinder wurden in Buchenwald umgebracht, sobald sie gefunden wurden. Kinder arbeiten nicht, aber sie essen. In der Nazi-Logik sind Kinder wohl die nutzlosesten aller Untermenschen.
Im Keller von Jahidne waren 80 Kinder. Das jüngste Baby war weniger als eineinhalb Monate alt.
Nein, Besatzung ist nicht besser, sie rettet keine Kinder. Unfreiheit ist alles andere als Lebensrettung.
Der Preis der Unfreiheit wird immer höher sein als der Preis der Freiheit.
Freiheit ist das Fundament, auf dem die gesamte Architektur Europas ruht. Freiheit ist die Voraussetzung aller menschlichen Werte.
Am 21. November begehen wir in der Ukraine den Tag der Würde und der Freiheit.
Diese beiden Begriffe ergänzen sich.
Weil die Würde des Menschen immer unantastbar ist. Weil die Freiheit des Menschen immer einen Kampf wert ist.
Der Begriff der Freiheit wird häufig instrumentalisiert. Autokraten und Rechtsextreme lieben ihn am meisten. Die Feinde der Demokratie verstehen es meisterhaft, demokratische Mittel für ihre Interessen zu missbrauchen.
„Berliner Zeitung“ und „junge Welt“ werden sich immer als die großen Verteidiger der Meinungsfreiheit darstellen. Gemeint ist aber die Freiheit von Fakten und die Verbreitung russischer Propaganda.
Am lautesten wird diese Freiheit natürlich von „Russia Today“ verteidigt. Unter dem Namen „NachDenkSeiten” spricht „Russia Today“ von der Doppelmoral des Westens. Und folgt damit eindeutig dem amoralischen Kompass Moskaus.
Es tut mir wirklich leid, dass die Freie Demokratische Partei den Einzug in den 21. Deutschen Bundestag nicht geschafft hat. Es war eine demokratische Wahl. Es tut mir aber deshalb leid, weil heute jede demokratische Partei gebraucht wird. Weil sich die Fraktion der „Alternativen Freiheitspartei Deutschlands“ verdoppelt hat.
Und weil es die verdammte Pflicht aller Demokraten ist, die Freiheit täglich zu verteidigen.
Freiheit muss kriegstüchtig sein. Demokratie muss wehrhaft sein.
Die Abschreckung des russischen Aggressors beginnt mit dem Sieg über die russische Vertretung im Deutschen Bundestag.
Denn Freiheit ist kein Witz.
Freiheit ist etwas sehr Persönliches, das nur gemeinsam bewahrt werden kann.
Wir leben nicht in einer perfekten Welt.
Aber Freiheit bedeutet, von einer perfekten Welt zu träumen.
Und diese Träume verwirklichen zu wollen.
Vielleicht versteht man erst dann, was Freiheit ist, wenn man wirklich weiß, was Unfreiheit ist.
Der Ukrainer Serhij Grytsiw hat Mariupol verteidigt. Dort geriet er in russische Gefangenschaft. Im Herbst 2024 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei.
Ich zitiere aus seinem kürzlich veröffentlichten Interview:
„Wenn die Russen vorschlagen würden, alle Gefangenen gegen die gesamte ukrainische Region Saporischschja einzutauschen, würde ich eher sagen, dass ich im Gefängnis bleibe. Die Interessen des Staates, der Gemeinschaft, der Nation sind viel größer als meine persönlichen Interessen. Wozu sonst diese ganze Gefangenschaft?“
Ende des Zitats.
Als ich im Oktober 2022 mit dem Auto nach Berlin fuhr, lag die Autobahn der Freiheit auf meinem Weg.
Diese Autobahn verbindet Warschau und Berlin.
Eines Tages werde ich auf dieser Autobahn in die Ukraine zurückkehren.
Wichtig ist, dass diese Autobahn verlängert wird.
Nicht nur bis Kyjiw, sondern bis Luhansk. Und dann weiter nach Süden. Durch Donezk. Durch Mariupol. Und bis Jalta auf der freien ukrainischen Krim.
Diese Städte werden die Freiheit wieder spüren. Wie unser Himmel. Wie unser Meer.
Und dann werden keine neuen Fotos mehr an der Gedenkmauer in Kyjiw erscheinen.
Europa lebt, weil Europa immer wieder für die Freiheit kämpft.
Der Kampf für die Freiheit geht weiter. Und wir werden ihn unbedingt gewinnen.
Weil Freiheit bedeutet, Träume in Ziele zu verwandeln. Weil Freiheit größer ist als wir alle. Weil Freiheit immer den Kampf wert ist.
Freiheit ist eine Herausforderung. Und Schwäche ist dieser Herausforderung nicht gewachsen. Freiheit erfordert Stärke.
Unsere Welt ist nicht perfekt. Aber wir bestimmen die Zukunft dieser Welt.
Es lebe Europa. Es lebe die Freiheit. Slawa Ukrajini!
Klicken Sie hier, um die Rede und das anschließende Gespräch mit Dr. Claudia Major im Video zu sehen.
Bildergalerie der 19. Berliner Rede zur Freiheit.
Für die Fotos in diesem Artikel und in der Bildergalerie danken wir dem Fotografen Frank Nürnberger.