Vor den Beratungen der EU-Außenminister fordert der Regierungschef eine härtere Haltung gegenüber Moskau. Zugleich setzt er auf Kooperation in der Wasserstoffwirtschaft.
Geführt von Nicole Bastian und Jens Münchrath
22. März 2021
Der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal fordert einen sofortigen Baustopp der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 und eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland. „Sollte Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden, erzielt Russland höhere Einkünfte, mit denen Moskau unter anderem seine Aggressionen gegen die Ukraine finanziert“, warnt Schmyhal im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Das heißt: Mit der Pipeline stärkt Europa die russische Aggression. Das kann nicht im Interesse der EU liegen.“
Der Premier erwartet von dem Außenminister-Treffen, auf dem die EU ihr Russlandstrategie besprechen will, ein „entschlossenes und einheitliches Signal gegenüber Moskau“. Die Sanktionen gegen Moskau sollten „nicht nur verlängert werden, sie müssen vielmehr in Zukunft „klarer, deutlicher und vor allem härter werden.“
Schmyhal verteidigte die Äußerung von US-Präsident Joe Biden, der den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin als „Killer“ bezeichnet hatte. „Vor dem Hintergrund, dass sich die Ukraine bereits seit sieben Jahren der russischen Aggression erwehren muss, die inzwischen mehr als 10.000 Menschen das Leben gekostet hat, kann ich nur sagen: Ich unterstütze die Formulierungen von Joe Biden“, so der Premier.
Lesen Sie hier das ganze Interview:
Herr Premierminister, US-Präsident Joe Biden hat einen neuen Ton in der internationalen Diplomatie gesetzt, indem er Russlands Staatschef Wladimir Putin als „Killer“ bezeichnete. Halten Sie das für richtig?
Die geopolitische Lage ist derzeit alles andere als einfach. Die Coronakrise verschärft das noch. Entsprechend gereizt ist die Stimmung. Aber vor dem Hintergrund, dass sich die Ukraine bereits seit sieben Jahren der russischen Aggression erwehren muss, die inzwischen mehr als 10.000 Menschen das Leben gekostet hat, kann ich nur sagen: Ich unterstütze die Formulierungen von Joe Biden.
Dennoch ist es unüblich, in einem derart scharfen Ton über andere Staatschefs zu reden. Hat Sie das in dieser Form nicht doch überrascht?
Nein, denken Sie an den Besuch des EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell in Moskau. Da hat Europa erneut das wahre Gesicht Moskaus gesehen, wie Russland zu Europa und dem Rest der Welt steht. Das muss sich doch auf das Verhältnis der zivilisierten Welt, der G7 zum Beispiel, zu Russland auswirken.
Würden Sie sich aus Europa, auch aus Deutschland, härtere Töne gegenüber Moskau wünschen?
Ich möchte mich vielmehr erst einmal bedanken bei der EU und insbesondere bei der Bundesrepublik für die Unterstützung, die die Ukraine in den sieben Jahren der russischen Aggression erhält. Die verhängten Sanktionen haben weitere Aggressionen gegen die Ukraine verhindert und helfen uns sehr. Deshalb glauben wir, dass die Sanktionen nicht nur verlängert werden müssen. Sie müssen vielmehr in Zukunft klarer, deutlicher und vor allem härter werden.
Inwiefern? Welche weiteren Schritte wären aus Ihrer Sicht notwendig?
Sanktionen sind ein effektives Einflussmittel, und sie könnten erweitert werden. Die Russische Föderation muss sich an die völkerrechtlichen Verpflichtungen halten und ihre Aggression gegen die Ukraine einstellen. Das betrifft vor allem die Menschenrechtsverletzungen von ukrainischen Bürgern auf der besetzten Krim und im Donbass. Natürlich sind auch in diesem Fall die Sanktionen angemessen und notwendig.
An diesem Montag werden die EU-Außenminister ihre Russlandstrategie besprechen. Was konkret erwarten, oder besser, wünschen Sie sich von diesem Treffen für Impulse?
Ein entschlossenes und einheitliches Signal gegenüber Moskau. Die Einheit der EU gegenüber der russischen Aggression stärkt auch die Position der EU als internationalen Akteur. Russland gibt sich ja größte Mühe, diese Einigkeit der EU-Länder zu zerstören, indem es einen Keil zwischen sie treibt. Wir sind uns bewusst, dass Bundeskanzlerin Merkel eine wichtige Rolle im Kampf um die europäische Einheit spielt.
In Deutschland selbst gibt es eine starke politische Strömung, die nicht zuletzt wegen der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg für eine verständnisvolle Haltung gegenüber Russland wirbt. Diese Politiker meinen, der Westen habe Moskau mit der Nato-Expansion bis an die russische Grenze provoziert. Ist der Westen da vielleicht zu weit gegangen?
Nein, das sehe ich nicht. Im Gegenteil: Wenn es irgendetwas gibt, das Russland in Zaum gehalten hat, dann die Nato-Erweiterung und die Sanktionen. Sehen Sie, die Ukraine ist ein unabhängiger Staat in Europa. Russland hat diesen unabhängigen Staat angegriffen und Gebiete besetzt. Das ist ein gefährlicher Präzedenzfall – für ganz Europa.
Halten Sie es für realistisch, dass die Annexion der Krim irgendwann wieder rückgängig gemacht wird?
Die Ukraine wird sich nie mit der Besetzung der Krim abfinden. Vor zwei Wochen haben wir eine Strategie zur Rückkehr der Krim beschlossen. Eine internationale Krim-Plattform soll zu einem effektiven Instrument der Deokkupation werden, das die internationale Unterstützung zur Rückkehr der ukrainischen Krim festigen wird.
Sie loben Merkel für ihre große Unterstützung. Dabei ist es gerade die Kanzlerin, die sich für das in der Ukraine umstrittene Pipelineprojekt starkmacht. Die USA wollen nun weitere Sanktionen gegen die Ostseepipeline verhängen. Glauben Sie, das Projekt lässt sich auf den letzten Metern noch stoppen?
Das hoffe ich jedenfalls. Denn sollte Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden, erzielt Russland mit der Direktdurchleitung über die Ostsee statt durch die Ukraine höhere Einkünfte. Einkünfte, mit denen Moskau unter anderem seine Aggressionen gegen die Ukraine finanziert. Das heiß: Mit der Pipeline stärkt Europa die russische Aggression. Das kann nicht im Interesse der EU liegen.
Kanzlerin Merkel betont, dass die Pipeline kein politisches Projekt sei, sondern eines privater Unternehmen. Ist das naiv?
Wir halten Nord Stream 2 für ein rein politisches Projekt. Das bestehende Erdgas-Transportsystem der Ukraine von 140 Milliarden Kubikmeter Durchleitungsvermögen pro Jahr hat noch viel Reserve: Im vergangenen Jahr wurden nur 56 Milliarden Kubikmeter durchgeleitet.
Möglicherweise war Nord Stream 2 anfangs ein kommerzielles Projekt, aber unter den heutigen Bedingungen der russischen Aggression gegen die Ukraine hat das Projekt ohne Zweifel eine geopolitische Dimension. Es geht nicht nur um die Sicherheit der Ukraine, sondern aller EU-Länder. Deswegen unterstützen wir voll und ganz alle Sanktionen gegen den Fertigbau von Nord Stream 2.
Europa wehrt sich gegen die extraterritorialen US-Sanktionen und wirft den USA vor, ökonomische Interessen zu vertreten, weil sie ihr Flüssiggas in Europa verkaufen wollen. Haben Sie dafür Verständnis?
Ich wiederhole: Wir begrüßen alle Sanktionen gegen Russland und Nord Stream 2. Es geht darum, dem Aggressor Russland die Möglichkeit zu nehmen, zusätzliches Geld zu verdienen, mit dem er Aggression und Terrorismus finanzieren kann. Bei diesem Projekt geht es auch nicht nur um Handel, es ist ein Element des hybriden Krieges gegen die Ukraine.
Russland verdient aber auch Geld, indem es Gas über die ukrainische Pipeline nach Europa verkauft. Was macht den Unterschied?
Ich möchte noch mal betonen, Nord Stream 2 ist die Fortsetzung des hybriden Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine, darunter auch durch die destruktive Rolle für das ukrainische Gastransportsystem.
Hat die Ukraine in den vergangenen Jahren selbst russisches Gas eingekauft beziehungsweise konsumiert?
Seit Beginn des Kriegs in der Ostukraine bekommen wir unser Gas aus den EU-Ländern. Wir haben da keine Gas-Handelsverträge mit Moskau. Das Handelsvolumen mit Russland insgesamt beträgt nur noch ein Fünftel des Niveaus vor Ausbruch des Kriegs. Wir kooperieren nicht mit Russland.
Aber Sie kaufen Gas aus Europa, das womöglich aus Russland stammt?
Das will ich nicht ausschließen. Aber wir kaufen das Gas bei unseren europäischen Partnern ein.
Nicht nur die Ukraine und die USA opponieren gegen Nord Stream 2, sondern auch Polen und Balten. Selbst die Franzosen sehen das Projekt kritisch. Wie erklären Sie sich das Beharren Berlins?
Wahrscheinlich überwiegen die Wirtschaftsinteressen. Die drei Bereiche Wirtschaftsinteressen, Geopolitik und saubere Beziehungen zwischen Partnern müssen ausbalanciert werden. Das ist schwierig – und deshalb werden Diskussionen diesbezüglich geführt.
Es heißt immer, die Ukraine sei auf die russischen Transitgebühren in Höhe von drei Milliarden Euro angewiesen. Könnte die EU diesen Beitrag nicht kompensieren – und damit die Ukraine aus der finanziellen Erpressbarkeit durch Russland lösen?
(Überlegt) Erstens, wie ich schon gesagt habe, ist das nicht nur eine Finanzfrage, und russische Gebühren für den Gastransit liegen deutlich unter den drei Milliarden Euro. Zweitens, schauen Sie: Wir haben es doch mit einer Aggression gegen einen souveränen Staat zu tun. 1994 hat die Ukraine freiwillig ihre Atomwaffen abgegeben.
Im Budapester Memorandum wurde uns von den USA, Großbritannien und Russland im Gegenzug zugesichert, die Ukraine vor möglichen Aggressionen zu schützen. Wir haben darauf vertraut. Und heute ist die Krim besetzt, ein Teil des Donbass ist besetzt, und wir haben Menschenleben verloren. Es geht hier am Ende um weit mehr als Wirtschaftsinteressen. Es geht hier um Krieg.
Das heißt, die finanzielle Erpressbarkeit ist nicht das Entscheidende?
Für uns geht es um drei Dinge: Erstens, ein Stopp der russischen Aggression. Zweitens, Abzug der russischen Truppen. Drittens, Wiedereingliederung dieser Gebiete in die Ukraine. Erst dann sind wir bereit, über Wirtschaftsbeziehungen zu sprechen.
Wer ist der Adressat dieser Forderungen?
Das sind Forderungen auch an die Partner, die uns damals die Garantien gegeben haben.
Wäre es vonseiten der Ukraine das klarste Signal an Moskau, wenn Sie die Pipeline, über die jetzt das russische Gas nach Europa geleitet wird, vielleicht auch mit Investitionshilfe der EU auf Wasserstoff umrüsten – und damit Europa beliefern? Dann sind Sie zukunftsfähig und unabhängiger von Moskau.
Ja, das ist mittelfristig unser Ziel. Die Wasserstoffproduktion und die Lieferung nach Europa ist neben der Digitalisierung unserer Wirtschaft eine der größten Prioritäten für uns. Wir haben intensive Gespräche mit der EU darüber. Die Wasserstoffproduktion ist eine riesige Chance und könnte ein wichtiger Wirtschaftszweig für unser Land werden.
Wäre es denn möglich, die Pipeline umzurüsten auf den Transport von Wasserstoff – und wie teuer wäre das?
Rein technisch ist das möglich, sagen unsere Experten. Die Abdichtungen zwischen den Röhren müssten erneuert werden. Und tatsächlich könnte diese Pipeline eine wichtige Rolle in der „grünen Energiewelt“ spielen. Es ist geplant, bis 2030 inländische Investitionen in Höhe von rund 14 Milliarden UAH (400 Millionen Euro) in die Entwicklung der Kapazität ukrainischer Gasspeicher zu investieren.
Die Ukraine erhält auch große Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Wann glauben Sie, wird die Wirtschaft so weit sein, dass die Ukraine diese Hilfen nicht mehr braucht?
Das ist für uns nicht die zentrale Frage. Wir arbeiten mit der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und mit dem IWF zusammen. Wir schätzen diese Zusammenarbeit sehr. Der IWF ist mehr als nur ein Kreditgeber – und wir wollen gar nicht auf ihn verzichten. Er unterstützt und berät uns bei Reformen. Wir haben gerade unsere Wirtschaftsentwicklungsstrategie bis 2030 vorgelegt. Unser Ziel ist es, das Bruttoinlandsprodukt bis dahin zu verdoppeln.
Das klingt ambitioniert, gerade in Zeiten der Pandemie. Auch die ukrainische Wirtschaft ist zuletzt kräftig eingebrochen.
Ja, das ist ehrgeizig, aber realistisch. Nicht nur unsere Regierung, sondern auch unabhängige Ökonomen sehen das so. Sie haben unsere Lage mit Ländern verglichen, die in einer ähnlichen Lage waren. Wir werden in den kommenden fünf Jahren 15 Milliarden Euro jährlich investieren, wir werden weiter privatisieren und eine Rentenreform durchführen und nicht zuletzt unseren Kapitalmarkt liberalisieren. All das wird das Wachstum stärken.
Sie nannten eben die Digitalisierung als bedeutendes Wachstumsfeld. Was konkret meinen Sie?
Wir kommen etwa bei der Digitalisierung der Behörden gut voran. Bis zum Jahresende wird unsere Verwaltung fast komplett papierlos im E-Format arbeiten. Das steigert nicht nur die Effizienz unserer Arbeit, es hilft vor allem auch im Kampf gegen die Korruption. Und wir haben große Expertise beim Thema Cyberkriminalität – nicht zuletzt wegen der ständigen Cyberattacken aus Russland.
Ein großes Thema in der Ukraine ist der mögliche EU-Beitritt. Wie weit sehen Sie die Ukraine hier?
Entscheidend ist der Fortschritt bei unseren Reformen. Beim Kampf gegen die Korruption oder der Rechtsstaatlichkeit müssen wir europäische Standards erreichen. Wir arbeiten intensiv daran. Wir führen auch Gespräche mit Brüssel über ein Open-Sky-Abkommen und über gemeinsame Standards des Energiemarkts. Vor allem betrifft das die Integration des einheitlichen Energiesystems der Ukraine in das gesamteuropäische Energiesystem ENTSO-E. Wir nähern uns Europa Stück für Stück an.
Das hört sich so an, als strebten Sie so schnell wie möglich in die EU.
Die Ukraine ist bereit, Mitglied der EU zu werden – wir wollen das so schnell wie möglich. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Leben im Krieg mit Russland für diese Idee geopfert.
Welchen Zeitrahmen halten Sie für realistisch?
Unser Wunsch wäre es, in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren EU-Mitglied zu sein. Das hängt natürlich nicht von uns ab, sondern von 27 weiteren Ländern. Auch was die Nato angeht, strebt die Ukraine die Mitgliedschaft an. Wir arbeiten ja bereits jetzt sehr eng mit der Nato zusammen. Dies wurde durch die Aussagen von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg deutlich, dass „die Türen der Nato für die Ukraine offen stehen“.
Wo sehen Sie Widerstände auf der europäischen Seite gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine?
Ich sehe da keine prinzipiellen Widerstände. Es gibt zwei Gründe, warum wir noch nicht in der EU sind: Wir arbeiten nach wie vor an europäischen Standards, sind aber zuversichtlich, dass wir nicht zuletzt wegen der Digitalisierung große Fortschritte erzielen. Zweitens gibt es innerhalb der EU auch Länder, die einer erneuten Erweiterung der EU skeptisch gegenüberstehen.
Längst nicht alle Osteuropäer sehen die EU so positiv wie Sie, vor allem in Polen und Ungarn macht sich eine große Europaskepsis breit. Wir beurteilen Sie diese Entwicklung?
Ich will mich da nicht in die innenpolitische Debatte dieser Länder einmischen. Ich kann da nur für mein Land sprechen und Ihnen versichern, dass die große Mehrheit der Ukrainer europabegeistert ist. Sie empfindet sich als Europäer. Das ist meine zentrale Botschaft.
Herr Premierminister, vielen Dank für das Interview.
Quelle: Handelsblatt