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Soll der Holodomor als Völkermord anerkannt werden? - Artikel in FAZ von Prof. Dr. Stefan Plaggenborg
Veröffentlicht am 05 Februar 2020 Jahr 23:24

Hungersnot in der Ukraine 

Soll der Holodomor als Völkermord anerkannt werden?

In der Ukraine sind 1932/33 unter Stalin Millionen Menschen verhungert. Eine Petition im Bundestag fordert die Anerkennung der Katastrophe als Völkermord. Doch der Petitionstext ist problematisch. Ein Gastbeitrag.

Von STEFAN PLAGGENBORG

Der Bundestag wird sich in naher, wenngleich terminlich nicht bestimmbarer Zukunft mit einer Genozid-Resolution beschäftigen müssen. Es geht um die Anerkennung der großen Hungersnot 1932/33 in der Ukraine als Genozid an den Ukrainern. Die Katastrophe ging als Holodomor (Tötung durch Hunger) in die Geschichte ein. Doch der Petitionstext ist problematisch; ob es sich beim Holodomor um einen Genozid an den Ukrainern handelt, ist umstritten; die für eine fachliche Beurteilung des Geschehens anzusprechende Deutsch-Ukrainische Historikerkommission ist gelähmt; der Botschafter der Ukraine in Deutschland hat die Kommission und ihren ukrainischen Ko-Vorsitzenden angegriffen. Und warum soll sich der Bundestag damit auseinandersetzen?

Die Petition spricht vom „Hunger-Genozid“ in Gegenden, wo „überwiegend ethnische Ukrainer gelebt haben“. Sie führt drei Argumente an, warum das Geschehen als Völkermord an den Ukrainern anerkannt werden soll. Erstens handele es sich um eine „künstliche, organisierte Hungersnot“, die eine „Nation von Landwirten dem Hungertod ausgesetzt hat“. Zweitens sei die Tat von Stalin angeordnet worden, um den Widerstand der Ukrainer gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Vernichtung des kulturellen und religiösen Lebens der Ukrainer zu brechen. Drittens wird auf entsprechende Anerkennungen in 23 nicht namentlich genannten Ländern verwiesen. Die Zahl der Opfer wird mit sieben bis zehn Millionen angegeben.

Die brutale und blutige Politik der Zwangskollektivierung 1929–32 und Getreiderequirierungen bis hin zum Aussaatgetreide hat die Hungersnot zweifelsohne heraufbeschworen. Genaue Opferzahlen liegen selbst nach jahrelangen Forschungen nicht vor. Die schockierenden und daher geheim gehaltenen Ergebnisse der Volkszählung 1937 brachten einen Bevölkerungsverlust von acht Millionen Menschen zum Vorschein, zum großen Teil in Folge der Hungersnot. Nach heutigem Kenntnisstand fielen dem Hunger und dadurch bedingten Seuchen in der Ukraine 3,9 Millionen Menschen zum Opfer. Die in der Petition angegebene Zahl entspricht einem veralteten Forschungsstand, der die Opferzahlen höher ansetzte. Dass es weniger waren, mildert das Verbrechen nicht.

Viele Kasachen waren betroffen

Problematisch ist die Petition, wenn sie allein die ukrainischen Opfer in den Blick nimmt. Die Zwangskollektivierung vernichtete den jahrhundertealten Bauernstand nicht nur in der Ukraine. Während dieses Verbrechens, das der Hungersnot voranging, wurden in den nicht nur ukrainischen Kollektivierungsgebieten etwa 300.000 Menschen standrechtlich erschossen. Hunderttausende starben während der Deportation und in „Sondersiedlungen“. Die Hungersnot traf proportional zur Gesamtbevölkerung die Kasachen, die rund ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren, stärker als die Ukrainer. Ebenfalls überdurchschnittlich schwer getroffen wurden die deutschen Siedlungen in der Ukraine und in der Wolgadeutschen Autonomen Sowjetrepublik. Die Hungersnot traf russisch besiedelte Gebiete relativ weniger. In der Ukraine lagen die Sterberaten regional weit auseinander. In allen Fällen ging der ungeheure menschliche Verlust mit der politisch gewollten Zerstörung der kulturellen Eigenheiten einher.

Die Aussage, Stalin habe den Holodomor angeordnet, ist schwer nachzuvollziehen. Bis heute konnte in den Archiven kein entsprechendes Dokument gefunden werden. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass es einen Vernichtungsbeschluss zur Ukraine ebenso wenig gegeben hat wie zu den Kasachen oder Deutschen. Unübersehbar ist aber der 1932/33 mit einer harschen Säuberung einsetzende Prozess der Zerstörung ukrainischer Kultur. Ähnliches war mit aller Grausamkeit auch woanders der Fall.

Das Argument, 23 Staaten hätten den Holodomor als Genozid anerkannt, ist das schwächste, denn mit der gleichen Begründung lässt sich auch eine Petition zur Einführung der Todesstrafe begründen.

Umso mehr wäre eine klärende Stellungnahme der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission (DUHK) wünschenswert gewesen. Politik und Öffentlichkeit dürfen von ihr eine Einschätzung der strittigen Frage erwarten. Doch die Kommission ist in einer verzwickten Lage. Die sieben ukrainischen Mitglieder bejahen die Genozid-Frage, die deutschen haben sich dem nicht angeschlossen. Anstatt darin den Anlass zu einer klärenden Kontroverse zu sehen, halten sich die deutschen Mitglieder mit offenen Worten zurück. Das ist nachvollziehbar im Sinne des Kommissionswohls, verfehlt aber den selbstgestellten Auftrag der Verbreitung von historischem Wissen.

Die Historikerkommission schweigt

Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine, äußerte seine Enttäuschung über die ironisch gemeinte „Arbeit“ der DUHK öffentlich. Er warf dem ukrainischen Ko-Vorsitzenden Jaroslav Hrycak Untätigkeit und unverantwortliches Schweigen angesichts der Genozid-Petition vor. In der Tat ist seit der Gründung der Kommission die im Zusammenhang der Krim-Annexion und der militärischen Ereignisse in der Ostukraine sehr lebendig geführte Diskussion über ukrainische Geschichte und ihr Verhältnis zur sowjetischen abgeebbt und verlief in von der DUHK organisierten Konferenzen für die Öffentlichkeit unsichtbar. Obwohl das Gegenteil intendiert war, hat die Kommission die Debatte und Vermittlung ukrainischer Geschichte aus der deutschen Öffentlichkeit abgesogen. In der Frage des Holodomors scheint sie handlungsunfähig zu sein.

Bemerkenswert ist, dass erst die Intervention des Botschafters die bis dahin zögerlichen ukrainischen Mitglieder zu einer gemeinsamen Erklärung trieb, in der sie sich dem ukrainischen Regierungsstandpunkt, der Holodomor sei ein Genozid, anschlossen. Der Eingriff der Politik wurde von den beiden Kommissionsvorsitzenden und besonders Hrycak zurückgewiesen, in der Sache jedoch gab es keine gemeinsame Erklärung.

Was dann?

Warum aber soll sich der Bundestag mit der Petition befassen? Die Hungersnot war die Folge eines gigantischen Verbrechens, ein mörderischer Akt des stalinistischen Regimes. Diese Monstrosität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah ausnahmsweise ganz ohne deutsche Beteiligung. Das Leid der Menschen und den historischen Kontext sollten Deutsche ebenso wenig wie Ukrainer und andere vergessen. Ob es sich um einen Genozid an den Ukrainern handelte, müssen die Abgeordneten des Bundestages selbst entscheiden. Das Bundesinnenministerium hat empfohlen, die Petition abzulehnen. Die Begründung ist eher formal: Einerseits sei eine völkerrechtliche Definition von Genozid erst 1951 erfolgt, andererseits seien auch in Russland und im Kaukasus Opfer zu beklagen gewesen.

Und wenn die Abgeordneten den Genozid an den Ukrainern anerkennten, was dann? Wer wird in der Diskussion ernsthaft sich darauf berufen, der Bundestag habe es so beschlossen?

Der Autor lehrt osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 

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