In der F.A.Z. sind unlängst ein Beitrag und ein Lesebrief zu einer kaum bekannten Katastrophe des 20. Jahrhunderts erschienen („Geschichtspolitik vor dem Bundestag“ von Stefan Plaggenborg in der F.A.Z. vom 5.Februar, „Was kann eine Historikerkommission leisten?“ von Martin Schulze Wessel, 12.Februar): Es geht um den Holodomor (ukrainisch „Tötung durch Hunger“) der Jahre 1932/33, einen vom Stalin-Regime organisierten Völkermord, bei dem mindestens 3,9 Millionen Ukrainer verhungert sind. Das Ziel dieser grausamen Strafaktion war, das ukrainische Bauerntum, das massiven Widerstand gegen die Zwangskollektivierung leistete, auszumerzen und somit das Rückgrat der Nation durch Verhungern zu brechen, weil sie eine Gefahr für das totalitäre System Stalins darstellte. Jahrzehntelang wurde diese schreckliche Tragödie verschwiegen, darüber zu sprechen war eine Straftat (5 Jahre im GULag). Das, was heute die wenigen Zeitzeugen berichten, lässt das Blut in den Adern gefrieren. Die Menschen stritten sich in ihrer Not um Baumrinden, Blätter, Knospen und Kaulquappen. Aus Verzweiflung waren Mütter gezwungen, eigene Kinder zu töten, es grassierte Kannibalismus.
Am 21. Oktober 2019 eröffnete der Petitionsausschuss des Bundestages eine Debatte zum Antrag (Petition 89118) mit 73 177 Unterschriften über die Anerkennung des Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk. Bedauerlicherweise hat das Auswärtige Amt dem Parlament empfohlen, von diesem wichtigen Schritt der historischen Gerechtigkeit abzusehen. Das Hauptargument ist sehr formalistisch: da der Begriff Völkermord (Genozid) erst 1948 in einer einschlägigen UN-Konvention verankert wurde, könne dieser auf die vorher begangenen Verbrechen keine Anwendung finden.
Allerdings muss man dagegenhalten, dass heute ja keine Zweifel bestehen, dass der Holocaust als Genozid einzustufen ist. Und die massenhafte Tötung von Armeniern im Osmanischen Reich 1915 ist vom Bundestag am 2. Juni 2016 ausdrücklich als Genozid anerkannt worden. In der Debatte darüber wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei der Verwendung des Begriffs Völkermord nicht um „juristische Anklageerhebung“ oder einen „donnernden Urteilsspruch“ gehe, sondern darum, die Dimension dieses Verbrechens zu veranschaulichen.
Das zweite Argument von Kritikern ist genauso wenig nachvollziehbar: auch in anderen Sowjetrepubliken seien damals Menschen verhungert, daher könne man das Massenverbrechen gegen die Ukrainer nicht hervorheben. Doch die mittlerweile unbestrittene Tatsache, dass 1932-33 auch etwa 1,5 Millionen Kasachen ums Leben kamen, spricht nicht gegen den genozidalen Charakter des Holodomor. Ganz im Gegenteil: Dieses Faktum unterstreicht nur die mörderische Planmäßigkeit Stalins, jene ethnischen Gruppen zu vernichten, die wie die Ukrainer ihre Unabhängigkeit anstrebten. Man kann nicht ausschließen, dass eines Tages auch in Kasachstan dieses Thema aufgearbeitet und um seine internationale Anerkennung geworben wird.
Das dritte Gegenargument lautet: Deutschland habe mit Holodomor nichts zu tun, daher bestehe kein politischer Handlungsbedarf. Auch diese Begründung ist nicht überzeugend, denn Massenverbrechen solchen Ausmaßes betreffen jede Nation und alle Menschen guten Willens, gerade in der Bundesrepublik. Denn Deutschland trägt eine besondere historische Verantwortung gegenüber der Ukraine, die im Zweiten Weltkrieg zwischen acht und zehn Millionen Menschen verloren hat. Jeder vierte Einwohner der Ukraine, die als Hauptschauplatz des Kriegs zwischen 1939 und 1944 von der Wehrmacht komplett besetzt war, wurde vom Naziregime umgebracht, darunter mehr als fünf Millionen Zivilisten und mindestens drei Millionen Soldaten. Außerdem wurden 2,5 Millionen Ukrainer als Zwangsarbeiter in das Dritte Reich gewaltsam verschleppt und als Sklaven ausbeutet.
Es gibt ein weiteres Argument, das nur hinter vorgehaltener Hand zum Ausdruck gebracht wird: Man möchte Moskau, wo der Stalin-Kult vom Kreml propagandistisch wiederbelebt wird, nicht verärgern. Denn Putin leugnet den Holodomor. Seine Anerkennung in Deutschland wäre daher keine Schuldzuweisung an die Russen, sondern eine wichtige Mahnung, dass die Massenerbrechen der Stalinschen Diktatur verurteilt werden müssen. Die Ukrainer hoffen, dass die Bundestagsabgeordneten der historischen Verantwortung Deutschlands gerecht werden und den Holodomor als Völkermord anerkennen. Dieser mutige Schritt würde in Deutschland die Millionen Opfer würdigen sowie dazu beitragen, solche Menschheitsverbrechen in Zukunft zu verhindern.
Dr. Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin