Die Wahl von Präsident Selenskyj hat vor Augen geführt, dass die Ukraine, trotz der seit 6 Jahren andauernden Aggression Russlands, eine sehr lebendige und stabile Demokratie geworden ist. Die Politikverdrossenheit ist für unsere Gesellschaft ein Tabuwort. Ganz im Gegenteil: wenn die Menschen mit der Situation nicht zufrieden sind, gehen sie zu den Wahlurnen und nehmen ihr Schicksal in die Hand. Obwohl mit der Krim und im Donbas sieben Prozent des Staatsgebiets oder 43.000 km² von Moskau besetzt wurden, obwohl wir 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge haben, konnten 2019 freie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden.
Dass Wolodymyr Selenskyj, ein absoluter Politneuling, mit 73 Prozent so deutlich gewinnen konnte, hat die Neugierde auf die Ukraine hier in Deutschland sogar erhöht.
Auch ein Jahr nach seinem Erdrutschsieg bleibt Präsident Selenskyj der mit großem Abstand populärste Politiker des Landes mit etwa 43 bis 44 Prozent Unterstützung. Denn auch wenn Ukrainer eine sehr ungeduldige Nation sind, wissen sie, dass man all die riesigen Probleme, vor allem den Kreml-Krieg, nicht mit einem Zauberstab lösen kann. Ihrem Staatsoberhaupt trauen sie nach wie vor zu, diese Herausforderungen erfolgreich anzupacken. Präsident Selenskyj hat demonstriert, dass er bereit ist, für den Frieden in der Ostukraine Kompromisse einzugehen, ohne dabei die roten Linien zu überschreiten. Mit dem neuen Bankengesetz hat Selenskyj gezeigt, dass er von keinem der Oligarchen abhängig ist und dass er die Reformen mit Élan voranbringen wird.
In der Tat gibt es in der Bundesrepublik manche Stereotypen, die das flächenmäßig größte Land Europas auf solche Begriffe reduzieren. Die ukrainische Diplomatie versucht, neue Farben in dieses schwarz-weiße Bild zu bringen. Zum Beispiel werben wir dafür, dass die Ukraine als attraktiver Wirtschaftsstandort für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union schon heute von entscheidender Bedeutung ist.
Als künftiges EU-Mitglied – und das ist ja nur eine Frage der Zeit – wird die Ukraine zum Wachstumsmotor der europäischen Gemeinschaft aufsteigen und einen neuen Geist und neue Impulse mitbringen.
Mit musikalischen Events wollen wir in Berlin unseren deutschen Freunden zeigen, dass die Ukrainer eine europäische Kulturnation sind, die Jahrhunderte lang von Europa künstlich abgetrennt wurde. Andererseits ist es für uns wichtig, dass die Themen Krim-Annexion und der russische Krieg nicht in Vergessenheit geraten, sondern hoch auf der Agenda der deutschen Politik und Gesellschaft bleiben. Denn ausgerechnet die Bundesrepublik spielt nach wie vor die Schlüsselrolle, um die Aggression zu stoppen und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Den persönlichen Beitrag der Kanzlerin Merkel zur Deokkupation und die Friedensbemühungen der Bundesregierung wissen wir Ukrainer sehr zu schätzen.
Die Ausrottung der Korruption bleibt eine der schwierigsten Aufgaben, auch für Präsident Selenskyj, der persönlich die Justizreform vorantreibt. Zu den wichtigen Schritten gehören zweifelsohne die Etablierung des Antikorruptionsgerichts, das seine Arbeit vor einem halben Jahr aufnahm, aber auch die allmähliche Erneuerung der Richterschaft. Wir sind dankbar für die Unterstützung dieser und anderer Vorhaben seitens der Bundesjustizministeriums.
Eine der Erfolgsgeschichten ist, dass eine beispiellose Transparenz für alle Politiker, Abgeordnete, Beamte, Richter und Staatsanwälte geschaffen wurde, was ihre Einkünfte und Vermögen betrifft.
Mit drei Klicks kann jeder auf der entsprechenden Webseite erfahren, was das Staatsoberhaupt, ein Minister oder ein Botschafter sowie ihre Familienmitglieder besitzen. Diese riesige Datenbank ist übrigens die Quelle Nr. 1 für strafrechtliche Ermittlungen. Aber man muss zugeben, dass wir hier einen langen Atem haben müssen, denn die Korruption ist nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Krankheit, mit der viele Menschen im Alltag konfrontiert werden.
Sowohl als auch. Mit diesem ungewöhnlichen Schritt wollte ich die deutsche Öffentlichkeit wachrütteln und das Schicksal der besetzten Halbinsel sowie meiner zwei Millionen Landsleute auf der Krim stärker in den Fokus rücken. Wir schätzen die Nichtanerkennungspolitik unserer deutschen und europäischen Partner sowie die eingeführten Russland-Sanktionen sehr. Das sind zentrale Pfeiler, damit der wirtschaftliche Preis dieser völkerrechtswidrigen Annexion für Putin in die Höhe getrieben und unerträglich wird.
Aber diese Maßnahmen sind nicht ausreichend, wir brauchen dringend ein internationales Verhandlungsformat zum Thema Krim, das parallel zu den Normandie-Gesprächen laufen sollte.
Deutschland könnte auch hier eine zentrale Rolle spielen und eine solche Plattform im Rahmen der Multilateralismus-Doktrin initiieren.
Mit dem Angebot einer Wette wollte ich auf eindringliche Weise betonen, dass die Ukrainer auf die Krim niemals verzichten und dass wir unsere Schwester und Brüder dort nie im Stich lassen werden. Nachdem Herr Schröder die Wette verloren haben wird, wird er zu den großen Feierlichkeiten aus Anlass der Wiedervereinigung der Ukraine mit der Krim nicht eingeladen werden, die in Bachtschysaraj und Jalta, Sewastopol und Simferopol stattfinden werden. Dann werden wir mit Kanzlerin Angela Merkel und der gesamten Bundesregierung mit Krim-Sekt und Massandra-Weinen anstoßen und unseren deutschen Freunden und Verbündeten für ihre enorme Unterstützung danken.
Herr Schröder nennt mich „ein Zwerg aus der Ukraine“. Ich darf ihm nur die biblische Geschichte über David und Goliath in Erinnerung rufen.
Vor allem möchte ich erneut unterstreichen, dass die Ukrainer das enorme Engagement der Kanzlerin Angela Merkel nicht hoch genug schätzen können, die militärische Intervention Putins zu stoppen und ihn zum Frieden zu zwingen.
Dass der Kremlherr seinen perfiden Krieg nicht ausweiten konnte, war das persönliche Verdienst von Frau Merkel, die die Minsker Abkommen mit Herrn Holland mitverhandelt, den Friedensprozess eingeleitet und somit Tausende Menschenleben gerettet hat.
Alleine dafür ist die Bundeskanzlerin in die Weltgeschichte eingegangen. Hinzu kommt die riesige Unterstützung Deutschlands für die Reformen in der Ukraine. Sollte Angela Merkel tatsächlich nach 2021 die politische Bühne verlassen, würden wir Ukrainer diese Entscheidung bedauern.
Gleichzeitig bin ich sehr zuversichtlich, dass, wer auch immer die nächste Bundesregierung anführen wird, wir mit einer sehr breiten überparteilichen Unterstützung für meine Heimat rechnen dürfen. Es ist uns gelungen, den Freundeskreis der Ukraine in den letzten Jahren zu erweitern, sowohl in politischen Kreisen, als auch in der deutschen Öffentlichkeit und in den Medien. Ich wage zu behaupten, dass wir eine kritische Masse erreicht haben, die dafür sorgt, dass diese präzedenzlose Unterstützung seitens der Bundesrepublik auch nach 2021 fortgesetzt wird.
Das war ohne Übertreibung eine historische Entscheidung der deutschen Behörden, ein wichtiges Zeichen der europäischen Solidarität, auch in Bezug auf Kyjiw. Wir haben in den letzten Monaten in Berlin hart daran gearbeitet, damit man in der Bundesrepublik die berechtigten Sorgen und Interessen der Ukraine ernst nimmt und sie berücksichtigt.
Wir hatten von Anfang an volles Vertrauen in unsere deutschen Freunde.
Dafür sind wir sehr dankbar, aber auch für den entscheiden Beitrag der Bundesregierung, damit ein neuer Transitvertrag zwischen der Ukraine und Russland Ende 2019 zustande kommt. Die jüngste Entscheidung der Bundesnetzagentur bedeutet, dass sich die Chancen der Ukraine, auch in Zukunft wichtiges Transitland für Gaslieferungen in die EU zu bleiben, erhöht haben, auch wenn die Pipeline Nord Stream 2 doch noch fertig gebaut und in Betrieb genommen werden sollte.
Andrij Jaroslawowytsch Melnyk ist außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland seit Dezember 2014. Zuvor er war unter anderem im Ministeriums der Ukraine für Auswärtige Angelegenheiten, als Generalkonsul in Hamburg und als erster Sekretär der Botschaft der Ukraine in der Republik Österreich tätig. Des Weiteren promovierte er in Rechtswissenschaften.
Quelle: Zentrum Liberale Moderne